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Gibt es Tests zur Abschätzung des Suizidrisikos?

von: Christoph Fischer

Spezifische Tests zur Abschätzung suizidalen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen, die eine genügend hohe Spezifität und Sensitivität aufweisen, liegen für den deutschen Sprachraum nicht vor.[1] Das „Self-Injurious Thoughts and Behavior Interview“ (SITBI) ist zwar auf Deutsch verfügbar, mit 72 komplexen Fragen aber in der Primärversorgung nicht einsetzbar.[2]

 

Eine Metaanalyse[3] fand 15 „Risk Assessment Instruments“ allerdings gab es nur für 4 davon genügend Daten, um die Testqualität zu bestimmen.

Test

Items

Sensitivität

Spezifität

Evidenzstärke

SAD-PERSONS Scale

13

15% (95% CI 8–24)

97% (95% CI 96–98)

hoch

Manchester Self-Harm Rule

4

97% (95% CI 97–97)

20% (95 CI 20–21)

hoch

ReACT Self-Harm Rule[4]

4

94% (95 CI 93-45)

24% (95 CI 23-25)

mäßig

Beck Hopelessness Scale

 

89% (95 CI 78–95)

42% (95 CI 40–43)

mäßig

HintergrundINFO: zwei der Tests, SAD-PERSONS-Scale und Manchester Self-Harm Rule, zeichnen sich durch hohe Evidenzstärke aus, diese beiden sollten wir uns näher anschauen:

 

Manchester Self-Harm Rule[5]

  • Selbstverletzung in der Vorgeschichte
  • frühere psychiatrische Behandlung
  • derzeitige psychiatrische Behandlung
  • Benzodiazepin als Überdosis

  Interpretation: wenn eine der Fragen positiv beantwortet wird liegt möglicher Weise Suizidgefährdung vor.

  Sensitivität 97%, Spezifität 20%, Evidenzstärke: hoch

Fazit

  • ein negatives Resultat scheint Suizidgefährdung weitgehend auszuschließen, unter Berücksichtigung der Vortestwahrscheinlichkeit könnte dieser Test zwar rechnerisch ähnlich wie der ReACT-Score einen negativen Vorhersagewert von 99,8% (95 CI 99,7-99,9)[6] erreichen
  • aber absolute Sicherheit wird es nie geben![7]
  • und er wird auch bei einem von 5 nicht suizidalen Patienten falsch positiv ausfallen!

 

SAD-PERSON-Scale[7]

  • Sex: männlich
  • Alter: unter 20 oder über 54 Jahre alt
  • Depressives Syndrom;
  • bipolare Anamnese
  • Plan für Suizid vorhanden
  • konkrete Vorbereitungen
  • Ethanol (& andere Substanzen) Missbrauch
  • aktuell alkoholisiert
  • Rationales Denken gestört (z.B. OPS, affektive, schizophrene Störung)
  • Suizidhandlungen in der Anamnese oder bei Verwandten ersten Grades
  • Ohne soziale Unterstützung, aktuelle psychosoziale Probleme
  • Nicht verheiratet, Single, lebt ohne Beziehung
  • Schlechter Gesundheitszustand, chronische Schmerzen/Krankheit

  Interpretation:

  • 0–2: keine Aufnahme, ambulante Therapie empfehlen
  • 3–4: Aufnahme möglich, TK oder kurzfristige amb. Kontrolle
  • 5–6: Aufnahme indiziert
  • >6: Aufnahme unbedingt erforderlich, notfalls auch Einweisung nach §8

  Sensitivität: 15%, Spezifität 97% Evidenzstärke: hoch

 

Fazit

  • wenn dieser Score ein sehr hohes Risiko ergibt, kann er eine Zwangseinweisung des Patienten untermauern
  • zum Ausschluss einer Suizidgefährdung ist er aber zu wenig empfindlich

 

 

Kann man die beiden Test sinnvoll kombinieren?

 

 

 

 

Literatur:

[1] Deutsche Gesellschaft für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) et al.: Leitlinie Suizidalität im Kindes-und Jugendalter, 4. überarb. Version, 31.05.2016, verfügbar unter http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-031.html

[2] http://nocklab.fas.harvard.edu/files/nocklab/files/sitbi_shortform_german.pdf?m=1435

[3] Instruments for the assessment of suicide risk: A systematic review evaluating the certainty of the evidence Bo Runeson, Jenny Odeberg, Agneta Pettersson, Tobias Edbom, Ingalill Jildevik Adamsson, and Margda Waern PLoS One. 2017; 12(7): e0180292 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5517300/

[4] ReACT prüfte neuerliche  Selbstverletzung und Suizide bei vorangegangenem Ereignis, der negative Vorhersagewert von ReACT betrug 99,8% (95 CI 99,7-99,9) https://www.researchgate.net/publication/221681439_The_development_of_a_population-level_clinical_screening_tool_for_self-harm_repetition_and_suicide_The_ReACT_Self-Harm_Rule/figures?lo=1

[5] Clinical Practice Guideline: Suicide Risk Assessment, ENA Emergency Nursing Resources Development Committee 2012 http://www.antoniocasella.eu/salute/ENA_suicide_dec12.pdf

[6] https://www.researchgate.net/publication/221681439_The_development_of_a_population-level_clinical_screening_tool_for_self-harm_repetition_and_suicide_The_ReACT_Self-Harm_Rule/figures?lo=1

[7] Suizidalität: Konsensus-Statement State of the art 2011 Österreichische Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie, https://oegpb.at/2014/07/15/suizidalitaet/

 

Erstellt 8-2019