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Zervikalsyndrom

von: Christoph Fischer

Suchbegriffe: Cervikalsyndrom, Cervicalsyndrom, Hexenschuß, Schleudertrauma, Peitschenschlag-Syndrom

Häufigkeit: in Hausarztpraxen machen Nackenschmerzen 4% aller Beratungsanlässe aus[1]

Was ist ein „nicht spezifischer Nackenschmerz“?

  Das ist eine Ausschluss-Diagnose,

  • Wenn keine abklärungsbedürftige Symptomatik
  • Keine behandlungsbedürftige Ursache
  • Und kein Hinweis auf abwendbar gefährlichen Verlauf besteht

Spezifische Nackenschmerzen

  • Verdacht auf radikuläre Reizung: sensible oder motorische Ausfälle, Parästhesien
  • Neurologische Symptome: Meningismus, Bewusstseinsstörung, gleichzeitige Kopfschmerzen mit Übelkeit, Erbrechen, Schwindel
  • Trauma
  • Zustand nach Operation
  • Bekannte Osteoporose oder systemische Steroid-Langzeitmedikation
  • Hinweis auf extravertebrale Ursache: Neoplasie, Infektion, Entzündung

HintergrundINFO: da es eine Ausschlussdiagnose ist, ist es notwendig, bei Nackenschmerzen immer Anamnese und Untersuchung gemäß S1-LL der DEGAM durchzugehen, und bei negativem Resultat in der Kartei die Diagnose „nicht-spezifischer Nackenschmerz“ zu vermerken.

Anamnese

  • Schmerzcharakteristik
  • Ausstrahlung in den Arm
  • Motorische Ausfälle
  • Parästhesien
  • Behandlungsversuche
  • Allgemeinzustand
  • Trauma in der Vorgeschichte
  • Systemerkrankung (Neoplasie, Osteoprose)
  • Steroidmedikation
  • Risikofaktoren für chronische Verläufe: Arbeit, Stimmungsanlage

Untersuchung

  • Inspektion: Haltung, Deformitäten, Verletzungszeichen, Mobilität
  • Palpation
  • Hauttemperatur
  • Beweglichkeitsprüfung

Diagnostik nicht spezifischer Nackenschmerz

Keine Bildgebung ohne Hinweis auf spezifische Ursache oder abwendbar gefährlichen Verlauf

Therapie nicht spezifischer Nackenschmerz

  • Aufklärung des Patienten über harmlosen Charakter der Nackenschmerzen,
  • die hohe spontane Besserungstendenz,
  • und die Neigung zu Rezidiven.
  • Die Grenzen von Diagnostik (bewusster einvernehmlicher Verzicht auf stigmatisierende Bildgebung)
  • Grenzen der Therapie sollten offen angesprochen werden

Stufentherapie nach Dauer

 akut

 0 – 3 Wochen

  1. Bewegung!
  2. Bewegung!!
  3. Bewegung!!!
  • NSAR,
  • alternativ zu NSAR Manipulation (spezifische Ausbildung in manueller Medizin erforderlich)

 Subakut

 4 - 12 Wochen

  • Wiederaufnahme der Aktivität
  • Krankengymnastik,
  • Postisometrische Relaxation
  • NSAR
  • Ev. Manipulation (Ausbildung erforderlich)
  • die Betroffenen sollen offen auf chronischen Stress, Depressivität oder Ängstlichkeit angesprochen werden.
  • Patienten, die regelmäßig NSAR einnehmen, sollten auf mögliche Nebenwirkungen hingewiesen werden.

 Chronisch

 >12 Wochen

  • Wie subakut 
  • zusätzlich multimodale Verhaltenstherapie

 

multimodale Verhaltenstherapie

In der Behandlung des chronischen Rückenschmerzes haben multimodale/interdisziplinäre Behandlungskonzepte einen Effekt gezeigt.

Eine Effektivität hinsichtlich Schmerzreduktion und funktionaler Verbesserung konnte aber nur für tägliche intensive Therapieprogramme (100 Stunden und mehr) gezeigt werden.

Sie sollten aus körperlichem Training

in Kombination mit psycho-logischen, sozialen

oder ergotherapeutischen Maßnahmen bestehen,

die auf die Arbeitsplatzbedingungen ausgerichtet sind

wird von Sonderkrankenanstalten der Sozialversicherungen angeboten >> "REHA-Antrag"

Diagnostik spezifische Nackenschmerzen

  • Bildgebungung
  • Labor
  • Elektrophysiologie

Therapie spezifische Nackenschmerzen

Überweisung

Neurologie / Orthopädie / Innere Medizin

Allgemeine wichtige Grundsätze der Diagnostik und Therapie

  • Unter dem Druck der eigenen und der Patientenerwartung werden häufig Verfahren angewendet, die auf einen schnellen Behandlungserfolg zielen.
  • Die Wirksamkeit und die Nachhaltigkeit der meisten Behandlungsmaßnahmen sind jedoch häufig fraglich und unzureichend durch klinische Studien gestützt.
  • Daher soll auf Therapien fokussiert werden, deren Wirksamkeit belegt ist.

NSAR

  • Für NSAR liegt eine Review zu nicht-spezifischen Nackenschmerzen und unkomplizierte akuten Kreuzschmerzen vor,
  • der nur eine geringe Wirksamkeit findet.[2]

Muskelrelaxantien

  Muskelrelaxantien sollten nach DEGAM-LL für Nackenschmerzen nicht angeboten  werden

  • Die Wirksamkeit von Muskelrelaxantien bei Nackenschmerzen ist schlecht untersucht.
  • Alle Muskelrelaxantien führen zu einer eingeschränkten Verkehrstüchtigkeit, haben ein Abhängigkeitspotential,
  • und erhöhen das Sturzrisiko bei Älteren.[3]
  • Diazepam ist als einziges für die Indikation Muskelrelaxation zugelassen.

Injektionstherapie mit Lokalanästhetika

  Injektionstherapie mit Lokalanästhetika sollten lt. DEGAM-LL für Nackenschmerzen nicht angeboten werden

  • Die Injektion der Lokalanästhetika erfolgt oft nach der umgangssprachlich so genannten Davos-Methode (Da wo ́s-weh-tut!).
  • Als therapeutische Rationale werden eine Blockierung der Reizweiterleitung und weitere Effekte wie lokale Entzündungshemmung angenommen.
  • Dafür gibt es jedoch keinen ausreichenden wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis.
  • Komplikationen durch Injektion von Lokalanästhetika sind beschrieben: Verletzung von Nachbarorganen (Pneumothorax), anaphylaktischer Schock und das Auslösen von zerebralen Krampfanfällen und Herzrhythmusstörungen.[4]

Kommentar

  • Leider haben sich in vielen Praxen Infiltrationen, Serieninjektionen und Infusionen fix etabliert, diese Praxen sind oft mit mehr als einem halben Dutzend Infusionsliegen ausgestattet.
  • "Unter dem Druck der eigenen und der Patientenerwartung werden häufig Verfahren angewendet, die auf einen schnellen Behandlungserfolg zielen."
  • Den Patienten wird zwar das Gefühl gegeben, sie würden optimal betreut,
  • doch besonders Patienten mit chronischen Beschwerden werden so nicht geheilt,
  • sondern ihre Somatisierung verstärkt.
  • Überflüssige Bildgebung verstärkt diese Stigmatisierung zusätzlich

HintergrundINFO: Die S1-DEGAM-LL formuliert die Empfehlung „…Injektionen sollten nicht angeboten werden…“  mit Bedacht als „schwache“ Empfehlung

Im Einzelfall kann es m.E. Gründe für ein Abweichen geben:

  • bewusster zeitlich limitierter Einsatz als Placebo,  in einer für den Patienten belastenden Situation
  • expliziter Patientenwunsch, in diesem Falle sollte auf den „Evidenzmangel“ hingewiesen und ein zeitlich befristeter „off Label“ Therapieversuch vereinbart werden

Aus dem DEGAM-Leitlinien-Archiv

In der abgelaufenen DEGAM-Leitlinie Nr. 13 von 2009 werden noch weitere Medikamente besprochen, die in der neuen Ausgabe nicht mehr erwähnt werden:

Empfohlene orale medikamentöse Therapien

Manuelle Therapie + Ibuprofen?

Ibuprofen zeigte keinen Mehrwert zusätzlich zu Manipulation bei einer Symptomkombination aus Nackenschmerzen und Kopfschmerzen  Evidenzgrad IIb

NSAR + Opioide?

  • „Aufgrund der ausgesprochen dünnen Evidenzlage zur oralen Medikation bei Nackenschmerzen, schlagen wir vor, sich bei akuten Nackenschmerzen, am Stufenschema der WHO zu orientieren[5]
  • Die Kombination Kodeinphosphat und Paracetamol ermöglicht eine bessere Schmerzreduktion als Paracetamol alleine (T Ia)[6]
  • Auf schwach wirksame Opiate (z. B. Tramadol) kann in der Regel verzichtet werden“

HintergrundINFO: Die Kombination Kodeinphosphat mit NSAR oder Paracetamol ist mit einem besonders hohen Risiko für die Entwicklung des "Schmerzmittel-induzierten Kopfschmerzes" behaftet

Abzulehnende orale medikamentöse Therapie

Für psychotrope Substanzen, die gelegentlich bei chronischen Nackenschmerzen oder HWS-Schleudertrauma verwendet werden, konnte kein positiver Effekt nachgewiesen werden (Liste gekürzt):[7]

  • Fluoxetin
  • Amitriptylin
  • Gabapentin,
  • Pregabalin

 

 

Literatur:

[1] Soweit nicht anders angeben stützen sich alle Angaben auf: https://www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/DEGAM-S1-Handlungsempfehlung/053-007_Nackenschmerz/053-007l_DEGAM%20LL%20Nackenschmerz_170110.pdf

[2] Wong JJ, Côté P, Ameis A, et al. Are non-steroidal anti-inflammatory drugs effective for the manage-ment of neck pain and associated disorders, whiplash-associated disorders, or non-specific low back pain? A systematic review of systematic reviews by the Ontario Protocol for Traffic Injury Management (OPTIMa) Collaboration. Eur Spine J. 2016;25:34-61.

[3] Spence MM, Shin PJ, Lee EA, Gibbs NE. Risk of injury associated with skeletal muscle relaxant use in older adults. Ann Pharmacother. 2013;47:993-8

[4] Fuzier R, Lapeyre-Mestre M, Samii K, Montastruc JL; French Association of Regional Pharmacovigilance Centres. Adverse drug reactions to local anaesthetics: a review of the French pharmacovigilance database. Drug Saf. 2009;32(4):345-56. doi: 10.2165/00002018-200932040-00008

 

aus DEGAM-Leitlinie Nr. 13: Nackenschmerzen 2009 (Archiv) 

[5] WHO. Cancer, pain relief and palliative care. Geneva: World Health Organisation 1990; WHO technical report series no 408.

[6] De Craen AJ, Di Giulio G, Lampe-Schoenmaeckers JE, et al. Analgesic efficacy and safety of paracetamol-codeine combinations versus paracetamol alone: a systematic review. BMJ. 1996; 313: 321-5.

[7] DEGAM-Leitlinie Nr. 13: Nackenschmerzen 2009 (Archiv) Seite 38

erstellt 10-2019